Freitag, 28. September 2012

Frankreich 2009 (4): Im Würgegriff

Wer kennt das nicht: Man steht auf, geht duschen, trinkt einen Kaffee und wird dann Zeuge häuslicher Gewalt.




Es ist morgens gegen zehn Uhr und ich putze die Badewanne. Ich putze sie seit meinem Einzug jeden Morgen, wenn ich duschen möchte. Ich versuche nicht nur den Rost zu entfernen, sondern auch dieses mir ungewohnte Gefühl des Ekels, wenn ich die Wanne betrete. Ich weiß nicht einmal, was mich an ihr stört oder ob es mehr das Ambiente des Bades ist. Es riecht meistens nach Chlor und Haarspray und Parfum. Ein Großteil der Decke fehlt und schwarze Balken lugen nackt hervor. Das Waschbecken ist zwar riesig, doch finde ich kaum Platz für meinen Rasierer. Sprühdosen, Make-up-Artikel und Flakons bedecken es vollständig und dabei ist das nur die Spitze des Schminkberges, der sich unter dem Waschbecken in Form von zwei vollen Kisten weiter ausbreitet. Überall kleben Flecken von Schminke oder irgendwelchen Cremes; Haare verteilen sich in jeder Ecke, doch leider bleiben sie da nicht immer, sondern wandern in die Zimmermitte. Obwohl mir Maria ständig zusichert, dass ich das Bad nicht reinigen müsste, mache ich (!) es freiwillig (!!), weil ich es sonst nicht aushalte.
 

Wenn ich dusche, muss ich vorsichtig sein, da an der einen Seite ein Duschvorgang fehlt, aber auf der anderen Seite Hemden zum Trocknen aufgehängt sind, für die sich leider sonst keinen angemessener Ort im Zimmer finden lässt. Den Dreh, weder das Zimmer zu fluten und gleichzeitig übermäßige Wasserspritzer auf die Hemden zu spritzen, habe ich erst seit zwei Wochen raus. Wenn ich noch ein paar Monate hier wohnen bleibe, werde ich sicherlich den schwarzen Gürtel im Duschen unter erschwerten Bedingungen erwerben. Mittlerweile lasse ich sogar meine Adiletten aus, wenn ich in die Wanne steige, was mir schon mindestens den orangen Gürtel einbringt. Ich bin trotzdem nicht stolz auf mich, da ich bei meinem Einzug das andere vermietete Zimmer mit eigener Dusche hätte wählen sollen, in dem jetzt Aurore wohnt. Damals kam ich zu dem logischen Schluss, dass das Badezimmer der Appartementherrin sicherlich ein höhere Qualität und weniger Schimmel aufweisen würde. Leider konnte ich das Bad damals nicht besichtigen, was mich Idiot nicht misstrauisch machte. Mit Logik kann ich hier keinen Blumentopf gewinnen. Das habe ich schon bei den Diskussionen über angebliche französische Schlampen und Spanier gelernt.

Als ich mit der Grundreinigung an mir und dem Bad fertig bin, gehe ich in die Küche für mein zweites Frühstück. Das erste bestand aus Kaffee und Zigaretten, das zweite soll aus Tee und Zigaretten bestehen. Ich setze das Teewasser auf und setze mich zu Maria und Olivier. Die Luft scheint stickig, und zwar nicht wie sonst, wenn Maria wieder für zwei Tage vergessen hat, die Küche zu lüften. Es liegt an Maria und Olivier. Haben sie einen Streit? Mal wieder? Am Tischbein neben mir steht eine Plastiktüte, aus der eine Whiskeyflasche und ein Tetra Pak Apfelsaft ragt. Ich versuche das Eis zu brechen. „Hast du heute noch etwas vor?“  frage ich Olivier. „Vielleicht.“ Seine Lippen grinsen, seine Augen nicht. 


Irgendetwas stimmt nicht.
 

Der Wasserkocher fordert mich mich durch sein Rattern auf, aufzustehen und den Tee zuzubereiten. Während der Teebeutel durchzieht, ziehen mich die Steckdosen an der Wand rechts von mir in den Bann. Sie sehen wie ganz normale Steckdosen aus, eigentlich nichts besonderes. Mit dem Unterschied, das sie nicht funktionieren – und es gar nicht sollen. „Sie sind zur Verzierung“, klärte mich Maria vor einer Woche auf, als ich laut fluchend in der Küche stand und am Mangel an Strom verzweifelte. Auch nach einer Woche will mir der ästhetische Mehrwert von Fake-Steckdosen nicht einleuchten. Ich habe schon nicht verstanden, warum meine Mutter sich Gardinen an die Fensterfront einbauen ließ, die nicht zugezogen werden können, was nötig wäre, wenn man tagsüber einen Film am Fernseher schauen möchte und die Sonne jegliches Sehvergnügen kaputtblendet. Aber Fake-Steckdosen?
 

Ein Stuhl fällt auf den Boden, Maria schreit, die Steckdosen verabschieden sich aus meinem Kopf. Ich drehe mich um. Maria droht Olivier mit der Whiskeyflasche in der Hand, außer sich vor Zorn. „Du trinkst heute nichts! Du trinkst heute nichts!“ Olivier bleibt ruhig. „Gib mir die Flasche, Maria, gib mir die Flasche.“ – „Non, non, non!“ Er tritt vor, sie weicht aus und der Streit verlagert sich in den Flur.
 

Ich bin baff und irritiert. Olivier kommt mit der Flasche in der Hand und der keifenden Maria im Rücken zurück in die Küche. Was geht hier vor sich? Mein Bauch entscheidet sich für einen schnellen Abgang. So richtig Durst habe ich doch eigentlich eh nicht. Scheiß auf den Tee, nur raus hier! Sie vergessen, dass ich im Raum bin. Dabei helfe ich ihnen gerne und schiebe mich wortlos an ihnen vorbei und eile in mein Zimmer. Ich muss zur Uni, ganz dringend! Nur noch einen Block und Stift in den Rucksack packen und dann los. Bloß keine Zeit verlieren.

Kurz bevor ich mein Zimmer verlassen will, dringt ein Schrei durch die halb offene Tür: Es ist Maria, es klingt ernst.
 

Scheißescheißescheiße.
 

Was geht da ab? Was soll ich machen? Hätten die nicht warten können, bis ich aus dem Haus bin? Verprügelt er sie? Soll ich dazwischen gehen? Kann ich das überhaupt? Und wenn er auch auf mich losgeht? Der macht mich doch alle.
So eine Scheiße passiert doch sonst nur auf RTL 2. Aber nicht mir. Nicht mir! Ich kann da doch jetzt nicht rausgehen. Bloß nicht den Kopf verlieren, Kafitz, bloß nicht den Kopf verlieren! Reiß dich zusammen! Was, wenn ihr wirklich was passiert? Will ich mich dann wie eine feige Sau im Zimmer verkrochen haben?
 

Scheißescheißescheiße.
 

Wenn sie noch einmal schreit, gehe ich raus. Ich muss! Bitte schrei nicht, Maria, bitte.
 

Sie schreit.
 

Fuck!

Als wäre es ein Kopfsprung ins kalte Wasser, springe ich in die Situation, reiße die Tür auf und eile hinaus. Jeder Muskel ist angespannt, mein Kopf frei von Gedanken. Im Flur schwebt die Schirmlampe wie einst Tom Cruise in Mission:Impossible über dem Boden, das Kabel ist aus der Halterung gerissen. Neben der Tür stehen Maria und Olivier. Er drückt sie in die Ecke, seine Hände um ihren Hals. „Arrêtez“ höre ich mich rufen, ohne nachzudenken, ohne die Situation zu erfassen. Sie bemerken mich nicht.
 

Wer hat Angst vorm bösem Wolf?
 

„Arrêtez!“ rufe ich erneut, lauter. Olivier dreht den Kopf zu mir und seine aufgerissenen Augen spießen mich auf.
 

Und wenn er kommt?
 

Ich will weglaufen, doch meine Beine bewegen sich nicht. Sein Blick lässt mich nicht los. Eine Hand verlässt den Hals von Maria und zeigt auf mich. „Bouge pas.“  Beweg dich nicht. Er sagt das deutlich, bestimmend und sehr überzeugend.
Ich bewege mich nicht.
 

Seine Hände lösen sich von ihrem Hals und packen sie am Kragen. „Donne moi les clés, Maria.“ Jetzt sehe ich, dass Maria hinter ihrem Rücken den Schlüsselbund versteckt. Hat sie die Tür abgeschlossen und will Olivier jetzt nicht gehen lassen? Den Typen, den sie nicht liebt, mit dem sie nicht schläft, der nur ein Ersatz für ihren Ex-Mann ist und der sie vor zwei Sekunden noch gewürgt hat. Ist sie bescheuert? ‚Gib ihm die verdammten, scheißverfickten Kackschlüssel, du dumme Nuss!‘ will ich ihr zurufen.
 

Ich sage nichts. 

Sie scheinen mich wieder vergessen zu haben. Es ist fast wie im Kino – in einem in dem geraucht werden darf, in dem eine Frau sich in der Menge des Parfums verschätzt hat und das Setting mit lachsfarbenen Fließen gekachelt ist. Sie streiten sich und werfen sich Dinge an den Kopf, von denen ich nichts verstehe. Sie schreien viel zu schnell und verwenden keine Untertitel. Aber immerhin kommunizieren sie verbal miteinander und versuchen sich nicht gegenseitig totzuprügeln. Eine deutliche Verbesserung, wie ich finde.
Kurz bevor beide in der Küche verschwinden, frage ich Maria, ob alles in Ordnung ist. Sie bittet mich die Gendarmerie anzurufen und hierher zu bestellen. Dabei drückt sie mir das Telefon in die Hand.
 

Ich gehe zurück ins Zimmer und rufe die 110 an. Das Gespräch ist ein einziges Desaster. Ich weiß nicht, wie ich die Situation auf Französisch beschreiben soll, die hier eben passiert ist und stottere wild drauf los; ich kann mich nicht an unsere Hausnummer erinnern und an den langen Nachnamen von Maria erst recht nicht. Irgendwie filtere ich bis zum Ende des Gespräches heraus, dass die Gendarmerie schon vor der Tür steht und darauf wartet hereinzukommen. Ich bedanke mich, lege auf, gehe zu Haustür, beruhige im Gehen Maria und öffne den Polizisten. Ich stoße ein kurzes Dankesgebet zum Atheistengott. Die Polizei nimmt unsere Aussagen auf. Olivier sitzt ruhig in der Küche, Maria muss von zwei Polizisten beruhigt werden. Nachdem ich meine Personalien und eine Aussage abgegeben habe, darf ich gehen – endlich.
 

Nach der Uni besuche ich François und zögere meine Rückkehr möglichst lange heraus. Es ist schon spät, aber noch vor Mitternacht, als ich nach Hause komme. Der Schreck sitzt mir noch in den Knochen wie Kälte im Winter. Es steht ein Krankenwagen vor der Tür, dessen Blaulicht still seine Runden zieht. Verschiedene Szenarien flimmern durch meinen Kopf, in allen liegt Maria auf der Bahre. Immerhin parkt hier kein Leichenwagen, das Schlimmste scheint nicht eingetroffen zu sein. Als ich oben ankomme, sehe ich, wie drei Sanitäter Oliver abtransportieren.
 

Was zur Hölle ... ?
 

Maria sagt mir, er habe Herzprobleme und vertrage kein Alkohol. „Alles in Ordnung“, fügt sie dazu. Ich mache meinen Mund auf und will etwas sagen, doch ich weiß nicht was. Ich will sie fragen, was Olivier hier macht, nachdem er sich heute Mittag an ihr vergriffen hat. Ich will sie fragen, ob sie bescheuert ist, weil sie ihn wieder in die Wohnung lässt? Ich will sie fragen, ob  Olivier bescheuert ist, weil er Alkohol trinkt, ohne es körperlich noch psychisch zu vertragen und sich wie Hulk zu einem Irren verwandelt? Ich will sie fragen, ob ich hier der einzig normale Mensch in der Wohnung bin oder der einzig Verrückte? Langsam komme ich mir nämlich ziemlich bescheuert vor. Und egal was ich fragen will, egal wie sehr ich fluchen würde, egal wie oft ich scheiße, verfickt und verdammt in meine Sätze einbringen würde, es kann meine aktuelle Gefühlslage nicht ansatzweise ausdrücken. Es ist definitiv nicht alles in Ordnung, ganz bestimmt nicht. Ich sage nichts und schüttel nur noch den Kopf, was ich bis zu einem Schleudertrauma und darüber hinaus fortsetzen könnte. Ich gehe wortlos in mein Zimmer. Mir ist kalt. Es gibt Momente im Leben, in denen man sich nichts sehnlicher wünscht, als in den Arm genommen zu werden, ohne ein Wort sagen zu müssen. Das ist ein solcher Moment, doch ich bin allein.

Ein paar Tage später sitzt Olivier wieder in der Küche und raucht seine selbst gestopften Zigaretten, als wäre nie etwas gewesen. Die spinnen, die Franzosen. Und die Portugiesinnen. 



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