Samstag, 28. November 2020

Warum mich die Klassengesellschaft bei einem Wasserschaden schlafen lässt

Letzte Woche hatte ich in meiner neuen Wohnung einen Wasserschaden und während zwei Personen dieses Wasser bekämpften und dabei beaufsichtigt wurden, konnte ich ein Zimmer weiter seelenruhig im Bett liegen. Aber der Reihe nach. 

Zuerst: Ich bin umgezogen! Gut, ehrlicherweise schon vor vier Wochen, aber ich, ähem, hatte sehr langsames Internet und der folgende Text ist sooooo gut, dass er die Datenmenge der Herr der Ringe-Trilogie (Extended Cut) mit einer 70K-Auflösung umfasst. Und da eine 70K-Technologie erst noch erfunden werden muss, könnt ihr froh sein, dass der Artikel überhaupt schon hochgeladen ist. Seid also lieber mal dankbar, dafür, dass ich euch, ähem, an meinem exklusiven Leben teilhaben lasse. Der Internetruhm, die Werbeeinnahmen und meine großen Erfolge bei den Frauen sind nur Nebengeräusche, die ich als Folge meiner Bloggertätigkeit mehr ertrage als willkommen heiße, nur um die Welt mit meinen philosophischen Gedanken zu bereichern - und um eines Tages den Weltfrieden zu verwirklichen. Dieser Blog ist absolut kein Werkzeug der Selbstdarstellung, mit dem ich mich als abenteuerlich, mutig und cool darstelle, nur um die innere Leere, um die mein Leben kreist, zu übertünchen. 

 Die weitere Wohnungssuche sowie der Umzug wären eigene Artikel wert, aber fokussieren wir auf das Wesentliche: Die neue Wohnung ist in vielen Dingen vergleichbar mit der alten Wohnung, kostet dabei aber nur etwas mehr als die Hälfte. 

 Allerdings hatte ich vor einer Woche einen Wasserrohrbruch. Natürlich nachts um halb drei. Trotz des Ärgernisses war es spannend zu sehen, wie das hier gehandhabt wird. Mein Vermieter rief mich an, weil Wasser aus meiner Wohnung offensichtlich zu einem Wasserfall im Treppenhaus führte. Eine kurze Untersuchung vor Ort zeigte ein leckes Rohr in meinem Bad – und Wasser in fast der gesamten Wohnung (vielleicht so 80 qm groß). Er weckte dann unseren bawab - jemand, der grundsätzlich auf das Haus aufpasst und auch Botengänge und kleinere Reparaturen ausführt. Meistens kommen diese aus dem Fayum oder Oberägypten und sind sozial eher gering angesehen. Also kam der bawab mit seiner Frau vorbei, stoppte den Wasserlauf und dann wischten die beiden unter der Aufsicht meines Vermieters das Wasser ab und schütteten es weg. Mein Vermieter krümmte aber nicht nur keinen Finger, sondern forderte mich auf, mich wieder ins Bett zu legen, er würde sich schon um die Angelegenheit kümmern. Und das machte ich dann natürlich auch.

 Als Internet-Celebrity werde ich dafür sicher von dem ein oder anderen Hater für diese Handlung kritisiert. Klar, aus dieser Kritik spricht sicher hauptsächlich Neid ob meiner unüberblickbaren Schar von Anhängern, Jüngern und Groupies; wenn dieser Hater aber über sich hinauswachsen könnte, wenn er nicht aus einem Reflex die Augen schließen würde im Angesicht meiner strahlenden Persönlichkeit, dann könnte er vielleicht offen sein, für den anderen sozialen Kontext hier in Ägypten, durch den meine Handlung nicht nur als akzeptabel erscheint, nein, sogar als moralisch geboten. 

 Ägypten ist eine Klassengesellschaft, in der es vor allem ein Oben und ein Unten gibt. Oben sind die mit Beziehungen und Geld und unten der ganze Rest. Eine nennenswerte Mittelschicht gibt es eigentlich kaum. In jeder Situation muss für den Ägypter also klar werden, wer das Sagen hat und wer zu gehorchen hat. In der Regel wird das durch selbstbewusste Auftreten und Befehlston schon deutlich gemacht. Bourdieu würde hier vom sozialen Kapital sprechen, von angelernten Verhaltensweisen der Oberschicht, die der Unterschicht klar machen, wo der Hammer hängt. Ein klares Abgrenzungsmerkmal vom basher zu seinem Untergebenen ist die Arbeit mit den eigenen Händen. Ein basher trägt nichts, er schleppt keine schweren Sachen, er macht sich die Hände nicht dreckig. Man muss es fast als eine Art symbolische Handlung verstehen, die ganz bewusst unterlassen wird. Das geht dann so weit, dass der Aussprich "Ich mache das" bedeutet, dass dem Untergebenen gesagt wird, was zu tun ist. Hier wird also der Untergebene - analog zu Aristoteles' Auffassung von Sklaven - als Werkzeug ohne eigenen Willen betrachtet. 

 Finde ich diesen Aspekt gut? Natürlich nicht. Und gerade zu Beginn habe ich ganz zielgerichtet versucht, das zu unterlaufen, weil sie meinem Selbstverständnis widersprachen. Im Supermarkt brauche ich niemanden, der meinen Einkaufswagen schiebt und befüllt und auch niemanden, der meine gekauften Waren eintütet. Wenn ich aber zum Beispiel meine Einkaufstüten oder meine Koffer vom Flug selbst durch das Treppenhaus nach oben trage, signalisiere ich meinem Bawab - ob ich es möchte oder nicht -, dass er seinen Job nicht ordentlich macht, was sein Selbstverständnis als guter bawab beleidigt. Besser ist es in solchen Situationen manchmal, die teilweise aufdrängende bis aufdringliche Hilfe anzunehmen und dafür fünf Pfund (ca. 30 Cent) Trinkgeld zu geben. 

 Zurück zu meinem Wasserschaden. Die Entscheidung musste also getroffen werden, ob ich nachts um halb drei für die kommenden Stunden Wasser schöpfe oder ob mich wieder hinlege. In Deutschland hätte ich schon aus Angst vor der sozialen Ächtung halbherzig mit angepackt. Hier in Ägypten aber führten mein moralischer Kompass und mein inneres Verlangen nach Schlaf gemeinsam in friedlicher Eintracht mich in mein Schlafzimmer, betteten mich, deckten mich zu und gaben mir einen Gute-Nacht-Kuss, so dass ich die kommenden Stunden friedlich wach bleiben konnte, um meinem bawab und seiner Frau beim Arbeiten zuzuhören. Am nächsten Morgen gab ich ihm dann als Dank für die nächtliche Aktion Geld, von dem er noch etwas mehr forderte und auch bekam. Insgesamt würde ich die Erfahrung als eine seltsame Mischung aus win-win und lose-lose bezeichnen. 


Montag, 16. November 2020

Ägyptische Musik: Nesma Mahgoub

Da ich in einem anderen Land lebe, bin ich natürlich auch an der hiesigen Kultur interessiert. Von daher ging ich vor einigen Wochen mit Kollege J. in die Oper, genauer gesagt, in den Garten der Oper mit Hygieneabstand und Mundschutz. Dort spielte laut seiner tiefgründigen Recherche "irgendwas Arabisches". Verbunden mit dem Veranstaltungsort stellte ich mir irgendetwas hochtrabend Klassisches vor, drei alte Säcke mit einer Oud oder so. Man sieht, ich war gut vorbereitet und meine Erwartungen an den Abend waren nicht existent. Vor Ort überraschte mich dann doch der etwas horrende Kartenpreis, statt der üblichen 3,50 € musste ich 6,50 € hinlegen. J. meinte, das läge an einem Starzuschlag, was dann nun doch meine Neugier müde weckte.

Auf der Bühne erschienen dann eben keine drei alte Säcke, sondern vier oder fünf junge Kerle, die aber nur Begleitung für die Sängerin waren: Nesma Mahgoub, eine Sängerin mit den lockigsten Haaren, kleine Statur, große Stimme. Ich muss jetzt schon vorausschicken: Das wird durch die YouTube-Videos leider nicht ganz deutlich.

Folgendes Lied könnten sogar manche kennen:


Das ist die arabsiche Version von "Let it go" aus dem Disney-Film Frozen. Nesma synchronisierte auch in beiden Teilen die Stimme der Hauptdarstellerin, also entweder Elsa oder Hannelore ... oder wie auch immer. 

Das erklärte dann auch den Starzuschlag. Am Abend selbst wechselte Nesma zwischen eigenen Songs und - meist englischsprachigen - Coverliedern hin und her. Das war durchaus gefällig und schön. Am meisten gefiel mir der Song Wujuh, vermutlich weil ich den Refrain schon beim zweiten Mal mitsingen konnte. Natürlich nur innerlich, nicht dass ich mich noch blamiere. Wujuh ist ein arabisches Wort und wenn jemand Arabisch sprechen kann, dann kann er vielleicht nicht nur was mit dem Titel anfangen, sondern auch mit dem anschließenden Text, ebenfallst Arabisch. Meine erste Deutungshypothese ist, dass sie damit irgendwelche Gefühle ausdrückt. Aber wer weiß: Vielleicht ist im Liedtext auch eine wissenschaftliche Arbeit in Politikwissenschaften versteckt. Für eine Promotion an der FU Berlin könnte das heutzutage sogar reichen.


Am meisten überraschte mich aber, dass Nesma an unserer deutschen Schule das Abitur gemacht hat. Dazu hat sie ein- oder zweimal bei "Jugend musiziert" teilgenommen - und gewonnen, bevor sie über die arabische Version von "Deutschland sucht den Superstar" bekannt wurde. Die Welt hier in Kairo ist manchmal schon ziemlich klein. 

Ihr neustes Lied kam gerade vor einem Monat heraus. Kul shams W Liha Del heißt laut Google: Jede Sonne hat ihren Schatten. (Wobei ich wenigstens die Hälfte tatsächlich verstanden habe.)


Ich wünsche einen schönen Start in die Woche.



Dienstag, 3. November 2020

Andere Länder, andere Sitten I: Für TikTok ins Gefängnis

 

Wofür kann man in Ägypten schon ins Gefängnis kommen? Zum Beispiel eine nackte Schulter in TikTok-Videos. 


Was in dem Video nicht zur Sprache kommt: Die Gefängnisse sind hier in einem katastrophalen Zustand - für Männer wie für Frauen. Übergriffe, Missbrauch und Vergewaltigungen sind hier durchaus an der Tagesordnung. Meine Achtklässler konnten letztes Jahr kaum glauben, wie die Zelle eines deutschen Jugendgefängnisses aussah, das im Buch abgebildet war (dabei war das Bild von 1998). 

Vorsicht, jetzt wird es etwas düster: So schreibt Ala al-Aswani in seinem 2004 veröffentlichten Buch von Der Jakubiyan-Bau wie ein Muslimbruder mit einem Besenstiel gefoltert wird. Zu bedenken dabei ist, dass zu der Zeit die Zensur durchaus aktiv war. Rückschluss: Der Staat wollte (und will vermutlich immer noch), dass die Bürger von diesen Praktiken wissen, um abzuschrecken. Der Zustand in den Gefängnissen ist dementsprechend keine Auswirkung von zu geringer Finanzierung - schließlich ist Ägypten ein armes Land -, sondern System. 

Montag, 2. November 2020

Ägyptische Musik: Mafia Mafia

Um mal ein wenig multimediale Abwechslung in den Blog zu bringen, möchte ich mal in regelmäßigen Abständen (höhöhö!) ägyptische Musik vorstellen. 

"Mafia Mafia" ist das erste Lied, das irgendwie hängen geblieben ist. Vermutlich liegt es daran, dass hier das Wort "Mafia" so ziemlich das Gleiche bedeutet wie Zuhause auch. Titel und Video lassen darauf schließen, dass sich der Sänger hier als ein Gangster alten Schlages inszeniert. (Vermutlich würde man das nicht erkennen, wenn man mit der hiesigen Kultur wenig zu tun hat.)