Donnerstag, 27. September 2012

Frankreich 2009 (3): Meine WG

Welch ein Glück: Ich habe eine Wohnung gefunden! Doch ich merke schnell, daß meine Mitbewohner nicht so sind, wie ich das von früheren WGs gewohnt bin. Irgendwie sind sie strange...


Neben mir wohnen noch Maria, die Vermieterin, Olivier, ihr Freund und Aurore, eine neunzehnjährige junge Frau, in der Wohnung.

Aurore wohnt im Zimmer neben mir. Leider ist die Wand zwischen uns sehr dünn. Ich bekomme so ziemlich alles mit, was in ihrem Zimmer so passiert – und damit meine ich nicht nur ihren Fernsehkonsum. Sie hat sich die billigste Schlafcouch zugelegt, die IKEAim Angebot hatte. Diese Couch klappert heftig laut, wenn sich auf ihr jemand ruckartig hin und her bewegt. Aurore bewegt sich dummerweise sehr häufig heftig hin und her und immer hat sie dabei Hilfe. Manchmal von ihrem Ex-Freund, der noch gar nicht weiß, dass er ihr Ex ist und ihr deswegen Fernseher, Computer, Kleidung, Schmuck und Möbel spendiert; meistens aber von ihrem neuen Freund, der meiner Meinung nach eine deutlich höhere Ausdauer wie auch Regenerationsfähigkeit als ihr aktueller Ex-Freund hat. Doch es ist nicht nur das Bett, welches Lärm macht, es ist auch sie. Sie quietscht wie ein Schwein, das abgestochen wird – mit dem Unterschied, dass ein Schwein nach einiger Zeit Totgesteche irgendwann tot ist. Und still. Außerdem dürfte sich dieses schweinische Quietschen bei einem Schwein natürlicher anhören als bei Aurore. Das geht mich natürlich nichts an, aber die Wand zwischen uns ist so dünn, dass ich mich neben das kopulierende Pärchen legen könnte – egal in welcher Besetzung – und es nicht lauter hören konnte als jetzt.

Ich versuche grundsätzlich die Privatsphäre meiner Mitbewohner zu respektieren, aber es wäre schön, wenn die Privatsphäre meiner Mitbewohnerin auch mich, mein Schamgefühl und meine Schlafbedürfnisse respektieren würde. Zugegeben: Manchmal kann sie nichts dafür. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass sie Maria damit beauftragt hat, mir zu erzählen, sie hätte Hemorieden. Ich weiß nicht einmal, was diese Dinger sind, geschweige denn, wie man sie korrekt schreibt. Sollte ich irgendwann einmal meine Erfahrungen über diese Zeit niederschreiben, würde ich herausfinden, dass sie sich korrekt „Hämorrhoiden“ oder „Hämorriden“ schreiben. Da ich mir nichts einfangen möchte, was ich nicht auch buchstabieren kann, benutze ich fortan lieber die Toilette von Maria mit. Das ist ein bisschen schade, da ich es mir auf unserem gemeinsamem Klo schon ganz gemütlich mit Merkzetteln über den subjonctif und Konjunktionen gemacht habe.

Olivier ist nicht nur Marias Freund, er ist auch Bäcker. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einem Menschen mit einem noch unregelmäßigerem Tagesablauf wie meinem begegnen werde. Früher in den Schulferien durchkreuzten sich morgens häufiger die Wege zwischen meinem Vater und mir. Mein Weg führte ins Bett, der meines Vaters ins Büro. Doch während mein Vater und ich nur verschiedene Zeitzonen hatten, ist Olivier der wandelnde Jetlag. Ein bis zwei Stunden nach Mitternacht geht er zur Arbeit und kommt gegen zehn Uhr wieder. Manchmal legt er sich dann einige Stunden hin, manchmal nicht. Manchmal schläft er am Abend noch zwei Stunden, manchmal nicht. Seine Augenringe schreien in die Welt, dass er weder gut noch viel schläft.

Olivier kann kochen wie ein junger Gott. Einmal kocht er abends für mich fünf verschiedene Gerichte, damit ich die bretonische Küche besser kennen lerne. Neben einem Stapel Crêpes backt er eine Far Breton, ein bretonischer Kuchen, und noch ein paar Sachen, deren Bezeichnungen mir im Moment des Hörens wieder entfallen. Er nötigt mich von allen Platten zu probieren. Das ist wirklich eine anspruchsvolle Aufgabe, da alles ausgezeichnet mundet und ich mich kaum entscheiden kann, wo ich meine Prioritäten setzen soll. Wie die Raupe Nimmersatt fresse ich mich durch alle Leckereien, nur sind meine Portionen größer. Auch verwandele ich mich nicht zu einem buntem Schmetterling, sondern in ein Nilpferd, das am liebsten in aktives Nichtstun abtauchen will. Doch just als ich mich verabschieden will, hält mich Olivier zurück. „Warte, Stéphane, ich habe noch was.“ Ich zögere. „Hey, Olivier, das ist wirklich nett von dir. Aber nachdem ich zuerst dachte, dass du mich nur bekochen wolltest, denke ich jetzt, dass du mich mästen und an einen internationalen Kannibalenring verkaufen willst. Wenn ich jetzt noch etwas essen soll, muss ich das langsam als Drohung auffassen. Entweder platze ich oder ich werde so fett, dass man  mich nur noch in separaten Stücken bewegen kann.“ Olivier lässt sich von meinen Befürchtungen nicht abhalten. „Warte bis du es gesehen hast!“ Er geht zum Kühlschrank und holt einen Glaskelch heraus, in dem etwas, das aussieht wie die Flamme der Freiheitsstatue, auf einem Vanillesee schwimmt. Auf diese Flammen wurden Streusel gefrorener Karamellcreme gestreut. „Das sind Île Flottantes, schwimmende Inseln, aus festem Eischnee“, klärt mich Olivier auf. Die Inseln sehen nicht nur traumhaft aus, sie schmecken so unglaublich gut, dass ich trotz der ‚Wegen Überfüllung geschlossen‘-Schilder, die am Eingang meines Magens angebracht sind, noch zwei Inseln genießend verschlinge. Wenn es so etwas wie einen Gaumenorgasmus gibt, dann habe ich ihn genau jetzt. Endlich weiß ich, wie sich Gott in Frankreich fühlt. Und schwangere Frauen im sechsten Monat.

Maria ist eine sehr herzliche Person. Als ich das erste Mal aus dem Haus gehen will, hält sie mich auf. „Stéphane, Stéphane, du kannst doch nicht einfach so gehen!“ Ich denke nach. Wohnungsschlüssel? Check. Autoschlüssel? Check. Uhr? Check. Portemonnaie? Check. Rucksack? Check. Hosenstall zu? Check. Zähne geputzt? Check. – Ich bin irritiert. „Was habe ich vergessen, Maria?“ – „Du kannst doch nicht gehen, ohne dich zu verabschieden!“ – „Aber ... ähem ... das habe ich doch. Ich habe A bientôt gerufen.“ – „Aber, Stéphane, das ist doch kein richtiger Abschied ... ohne bisous!“ Es dauert einen Moment bis ich das verarbeite. Ich bin eh schon kein Fan von den bisuos, diesen Küsschen links, Küsschen rechts. Ich integriere mich natürlich in die französische société und spiele mit, aber das gute, deutsche Händeschütteln bevorzuge ich deutlich. Maria zieht mich zu sich heran. Es fühlt sich an, als ob sich meine Backe an einem Fisch reibt, der sein ganzes Leben in Eau de Cologne geschwommen hat. Zu meiner negativen Überraschung hört Maria nicht ordnungsgemäß nach zwei bisous auf, sondern erst nach vier. Mein Magen zieht sich zusammen und meine Hand versucht meine Backe von Schminke und Creme zu befreien, mein Gehirn braucht zwei Sekunden, um die Sauerstoffzufuhr wieder herzustellen. „Maria, ich fahre nur für ein paar Stunden zur Uni und nicht für ein halbes Jahr weg. Wir können das nicht jedes Mal machen. Das nächste Mal sage ich einfach ‚Bis später‘ und dann hat sich das. Okay?“ Sie nickte lachend.

Maria kam vor über fünfundzwanzig Jahren nach Frankreich. In dieser Zeit hat sie viele Erfahrungen mit diesem Land und ihren Bewohnern machen können. Sie konnte sich einleben. Sie müsste nicht nur die Sprache der Franzosen verstehen, sondern auch deren Mentalität. Sie hatte Zeit genug, um die schönen Seiten wertzuschätzen und sich mit den schlechten zu arrangieren. Nach diesem langjährigen Prozess hat sie ein in Stein gemeißeltes Urteil gefällt: In Frankreich sind alle Männer faul und Frauen sales putes, dreckige Schlampen. Interessant ist, dass eine Person bereits eine sale pute ist, wenn sie mit mehr als einem Mann geschlafen hat. Wohlgemerkt: In ihrem ganzen Leben, nicht in einem Monat. Ich frage mich, ob diese Definition auch auf Schwule und katholische Priester ausgeweitet werden kann. Aber vielleicht zählen nur volljährige Männern und dann hätten die Priester noch einmal Glück gehabt.
In Portugal hingegen, so Marias Überzeugung, dem Hort der ehrbaren und katholischen Frauen, würde so etwas nicht passieren. Hier herrsche noch Zucht und Ordnung. Bevor ich mich frage, wie ihre Meinung mit ihrer Scheidung und ihrer Beziehung zu Olivier zusammen passt, klärt sie mich darüber auf, dass sie noch nie mit Olivier geschlafen habe. Sie würde ihren Mann jeden Moment mit Kusshand zurücknehmen. In dem Moment verstehe ich weder die exakte Natur ihrer Beziehung zu Olivier, noch den Grund, warum sie mit dieser Aussage nicht warten kann, bis er nicht mehr direkt neben ihr sitzt. Ich kann mir vorstellen, dass ihn das verletzt, auch wenn er sich nichts anmerken lässt.

Noch schlimmer als Franzosen sind laut Maria Spanier. Diese hassen alle Portugiesen, und zwar gänzlich ohne Grund. Und weil alle Spanier die Portugiesen hassen, hassen die Portugiesen die Spanier zurück – als Reaktion sozusagen. Und jetzt hassen die Spanier die Portugiesen, weil die Portugiesen die Spanier hassen, weil die Spanier die Portugiesen hassen. Ein Teufelskreis. Aber angefangen haben die Spanier. 


Vor ein paar Jahren hatte Maria einen Unfall mit ihrem Auto in Spanien. Er war so heftig, dass sie seitdem eine Beinschiene tragen muss, arbeitsunfähig ist und unter anderem Morphium gegen die Schmerzen schlucken muss. Im spanischen Krankenhaus hätte sich aber niemand richtig um Maria gekümmert und sie wäre nicht anständig behandelt worden – nur weil sie Portugiesin ist. Sie war richtig froh, als sie dann wieder nach Frankreich transportiert wurde, wo sie wenigstens eine vernünftige medizinische Versorgung erhielt. Spanien und Spanier sind halt scheiße. Ich verstehe nicht ganz, was die Spanier jetzt so Schlimmes verbrochen haben, aber es war schlimm – ganz sicher. Auf meine Erwiderung, dass Frankreich dann ja nicht ganz so schlimm sein könne, wenn sie hier nicht nur eine gute medizinische Versorgung erhält, sondern auch eine Frührente, die zum Leben reiche. „Wie kannst du nur so etwas sagen, Stéphane? Die Franzosen sind doch alle faul und die Frauen sales putes.“ Ich kapituliere. Deutschland hingegen liebt sie, vor allem weil wir so diszipliniert und fleißig sind.

Mich mag sie zum Glück trotzdem.




>> Alle Frankreich 2009-Episoden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen