Montag, 22. Oktober 2012

Frankreich 2009 (6): Ein lustiger Besuch im Krankenhaus, 2. Akt.

Was das letzte Mal geschah: Meine Vermieterin/Mitbewohnerin Maria wurde erneut von Olivier, ihrem Freund, angegriffen. Sie nahm sich vor ihn anzuzeigen und ich sollte sie zur Gerichtsmedizin fahren, damit ihre Verletzungen für das Gerichtsverfahren protokolliert werden konnten. Eigentlich keine keine erwähnenswerte Geschichte. Eigentlich...


Maria hatte zwei Autos: Einen violetten Ford Ka, bei dem ich nicht erkennen konnte, wo die eine Beule anfing und die andere aufhörte und einen blauen 5er BMW mit hundertsiebzig Pferdestärken, Klimaanlage, CD-Player, elektrischen Fensterhebern und – das war das Beste – mit Ledersitzen. 


Wir fuhren mit dem Ford Ka. Auf der anderen Straßenseite stand mein Auto, mein Peugeot 306. Er schien bestürzt. Nicht nur, dass ich fremdging, nein, das störte ihn gar nicht. Wir hatten schließlich eine offene Beziehung und ich konnte mit jedem Auto fahren, wenn ich nur wollte. Doch als ich in Marias Gefährt einstieg, da kam es mir so vor, als würde etwas in ihm unwiderruflich zerstört. Sein Blick schrie mir entgegen: „Warum, Kafitz, warum? Hast du denn gar keine Würde, gar keinen Anstand mehr? Warum fährst du mit dieser hässlichen, verbeulten und nicht verkehrssicheren Drecksschleuder?“ Für einen Moment war ich mir unsicher, ob er vom Auto oder von Maria sprach. „Komm rüber, Kafitz, fahr mit mir! Ich war dir doch immer ein guter Freund. Die halbe Welt haben wir gemeinsam bereist und nun gibst du mich auf für das da?“
 

Ich blickte zu Maria. „Sollen wir nicht lieber mit meinem Auto fahren?“ – „Aber Stéphane, ich kann doch nicht erwarten, dass du mich ins Krankenhaus fährst und dann fahren wir nicht einmal mit meinem Auto. Das geht doch nicht.“ Sie lachte. Kein rationales Argument kam mir in den Sinn, was gegen dieses Argument sprechen könnte. Ich nickte.
Mein Hintern fiel weich in den Sitz und das Unbehagen begann, meinen Rücken zu massieren. Meine Hände umfassten fest das Lenkrad, das so durchdrungen war von dem jahrelangen Einsatz von Handcremes, dass ich die ganze Fahrt das Gefühl nicht mehr verscheuchen konnte, Hundekot zu kneten. Bevor meine Phantasie Amok laufen konnte, versuchte ich noch einen Rückzugsversuch. „Schau mal, Maria, mein Auto steht gleich auf der anderen Straßenseite. Sollen wir nicht doch lieber das nehmen?“ – „Aber Stéphane, jetzt tu doch nicht so, als ob du Angst hättest, das Auto zu fahren.“ Hatte ich aber. Als Mann konnte ich das natürlich nicht zugeben.
 

Ich wünschte mir, dass der Morgen kurz und schmerzlos vorüberginge, ohne jegliche Komplikationen: Maria hinfahren, kurz auf sie warten und sie wieder nach Hause bringen – da konnte eigentlich nichts schiefgehen. Hoffentlich würde mich kein Kommilitone mit diesem Ding sehen und auch sonst kein Mensch. Ich startete den Motor. Mission: Unauffällig hatte begonnen. Als ich an meinem Peugeot vorbeifuhr, schien es, als liefe ihm eine Träne aus dem linken Auge, weil er befürchtete, wir würden uns nie wieder sehen. Als ich näher hinschaute, war die Träne doch nur Vogelscheiße, aber ein schlechtes Gewissen hatte ich dennoch. 

Als mich Maria beim Bäcker anhalten ließ, um unser Frühstück zu kaufen, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe und wischte mit einem Taschentuch das Lenkrad sauber, das anschließend schwarz war. Der Ekel durchstieß meine Brust wie die Geburt eines Alien. Ich versuchte schleunigst das Taschentuch in den nächstgelegenen Mülleimer zu werfen, bevor ich noch wegen des Besitzes von Chemiewaffen verhaftet worden wäre. Als Maria zurückkehrte, steuerte ich unser Gefährt auf das Gelände der Uniklinik. Dummerweise fanden wir die Gerichtsmedizin nicht und so tuckerten planlos wir kreuz und quer. Maria fragte einen Handwerker nach dem Weg, der uns uns ans andere Ende der Anlage schickte. Als wir dort ankamen, fanden wir einen Parkplatz vor, dessen Ausfahrt von einer schwarz-gelb-gestreiften Schranke gesichert war. Vor der Einfahrt jedoch war ein Loch. Dieses Loch war kein typisches französisches Straßenloch, welches jede Straße befällt, die älter ist als drei Wochen und sich ausbreitet wie ein Schimmelpilz. Nein, dieses Loch wurde mit Absicht in die Straße gelassen und mit Bordsteinen umrandet. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und verstand den Zweck dieser Konstruktion nicht, bis ich mir die Fahrzeuge anschaute, die auf dem Platz dahinter parkten. Eine Gemeinsamkeit von ihnen allen war, dass sie groß waren – und breit. So breit, dass sie ein solches Loch ohne Probleme überfahren konnten.

Ich legte den Rückwärtsgang ein. „Halt, halt! Was machst du denn?“ unterbrach Maria meine offensichtlich vernünftige Absicht. „Wir müssen da doch drauf fahren!“ – „Aber Maria, schau doch, das ist kein Besucherparkplatz. Außerdem ist das Loch viel zu breit für unser autoähnliches Gefährt.“ –„Non, non, Stéphane! Der Handwerker meinte, dass wir hier richtig sind. Fahr zu!“ – „Aber Maria, ich kenne dein, ich nenne es einfach mal ‚Auto‘, doch gar nicht. Es ist bestimmt nicht breit genug.“ – „Doch, doch, das passt. Vertrau mir. Fahr los!“ – ‚Was soll’s. Es ist doch ihr ‚Auto‘, dachte ich, legte den ersten Gang ein und ließ den Wagen langsam vorwärts rollen. Jegliche Gedanken an einen Fehlschlag, drängte ich an den Rand meines Bewusstseins. Wenn ich nur fest genug, daran glaubte, dass wir es auf die andere Seite schafften, dann würden wir das! Es musste einfach klappen, es musste!
 

 – Es klappte nicht. Während Maria laut an meiner Seite irgendwelche Richtungsanweisungen schrie, die total deplatziert waren, versuchte ich die Ruhe zu behalten und den Wagen über die Bordsteine zu balancieren. Mit der Motorhaube hatten wir fast die andere Seite des Loches erreicht, da verschätzte ich mich unglücklicherweise um die Breite eines Reifens eines Bobbycars. Der linke Vorderreifen rutschte ab und ganze Wagen sprang kopfüber in das Loch. Wie ein Käfer auf dem Rücken konnten wir uns nicht mehr bewegen, da zwei Reifen keinen Bodenkontakt mehr hatten und überhaupt dieses Auto nicht für diese unbequeme Lage konstruiert wurde. Am liebsten wäre im Boden versunken, nur um dann festzustellen, dass ich die Straße bereits von unten betrachtete und der Wunsch somit schon in Erfüllung gegangen war. Die Blicke von umstehenden Handwerkern attackierten auf das heftigste meine Scham und meine Männlichkeit. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Was sollten sie auch denken? Da saß ein junger Mann nicht nur in einer violetten Ausgeburt der Hässlichkeit, die ursprünglich für Hausmütter konzipiert worden war, um höchstens einmal in der Woche bei ALDI einkaufen zu fahren. Er befand sich in diesem Moment mit diesem bereits vordemolierten Gefährt in einem Loch, welches offensichtlich dafür gebaut worden war, es nicht zu benutzen. Bevor ich feststellen konnte, ob ein unzumutbares Maß an Peinlichkeit töten könnte, kletterte ich an der Beifahrerseite aus dem Wagen wie Spiderman – nur ohne Kostüm, ohne Spinnenseile und ohne Eleganz.
 

Qu’est-ce que t’as fait, Stéphane? Was hast du gemacht?“ – „Ich habe genau das gemacht, was ich deiner Meinung nach tun sollte.“ Sie lachte. „Aber du solltest doch über dieses Loch fahren und nicht da rein!“ Für einen Moment kam ich mir verarscht vor. Vielleicht auch für zwei. Zum Glück kamen uns schnell einige Handwerker zu Hilfe, die uns mit einem Seil und einem Traktor aus dem Schlamassel zogen. Maria bedankte sich herzlich, ich nur kleinlaut. Mein Wunsch war, möglichst schnell von dort wegzukommen und ich drängte auf eine baldige Abfahrt. Wir stiegen ein. Ich startete den Motor und drückte das Gaspedal, der Motor erstarb, ich guckte blöd, startete ihn erneut, drückte das Gaspedal, der Motor starb, ich guckte blöder, sah dann aber das kleine Leuchten an der Tankanzeige, suchte nach der versteckten Kamera, fand aber nur umstehende Menschen mit großen Augen, seufzte ganz tief durch, unterdrückte den ersten Schwall Tränen des Tages, verfluchte den Tag meiner Geburt und schüttelte den Kopf.
 

„Jetzt fahr doch endlich los, Stéphane! Worauf wartest du denn?“ lamentierte Maria von der Seite. „Sag mal, Maria, kann es sein, dass wir keinen Sprit mehr haben?“ – „Ich weiß es nicht. Hast du nicht nachgeschaut, als wir losgefahren sind?“ Bitte? Ich dachte, ich hätte mich verhört. War es nicht ihr Auto? Sollte sie nicht wissen, wie voll ihr Tank ist und mich darauf hinweisen dass wir noch tanken müssten, sofern dies notwendig gewesen wäre? Doch dann sagte eine innere Stimme zu mir: „Da hat Maria schon recht. Der Fahrer ist dafür verantwortlich zu wissen, ob das Fahrzeug fahrtüchtig ist oder nicht. Und auf die Tankanzeige hättest du schon mal schauen können, egal wie sehr dich das Lenkrad, die behäbigen Bremsen oder sonstige Mängel im Fahrzeuginterieur abgelenkt haben. Sorry, Kafitz, aber aus der Nummer kommst du nicht raus.“ Es war eine dieser Stimmen, die ich am liebsten rausgerissen, totgetreten, viergeteilt, durch den Fleischwolf gedreht und dann als Frikadellen weiterverarbeitet hätte. Leider geht das mit inneren Stimmen nicht. Schade eigentlich, denn ich bekam langsam Hunger.
 

„Maria, hast du einen Bekannten, der uns einen Kanister Benzin vorbeibringen kann? Dann könnten wir jetzt den Wagen hier stehen lassen und ihn später abholen?“ – „Oh ja. Kein Problem.“ Nachdem wir keine zwei Minuten die Straße zur Uniklinik zurückliefen, fanden wir sofort die Gerichtsmedizin, an der wir vorher offensichtlich mehrere Male vorbeigefahren sind, ohne sie zu bemerken.
 

Maria wollte, dass ich sie ins Untersuchungszimmer begleitete. Sie wurde von einer Ärztin untersucht. Die Untersuchung begann harmlos mit einigen Fragen zu dem Vorfall mit Olivier. Maria drehte auf und steigerte sich emotional in die Beschreibung ihres unfreiwilligen Sturzes hinein. Maria machte das immer so. Mir war langweilig und mein Gehirn war kurz davor, sich in den Standby-Betrieb zu schalten, doch plötzlich und für mich komplett unvorbereitet, bat die Ärztin Maria sich frei zu machen. Ich saß angespannt und aufrecht im Stuhl. Eine innere Stimme fragte mich, ob ich Maria, eine fünfzigjährige, magere, bleiche Frau mit ihren Rosentattoos und Piercings wirklich nackt oder auch nur halbnackt sehen wollte? Eine eigentlich rhetorische Frage, doch mein ganzes Sein, jede Faser meines Körpers verneinte diese Frage deutlich und bestimmt, gleichzeitig ruhig. Meine Augen jedoch, in Anbetracht dessen, was ihnen ohne eine zügige Evakuierung bevorstand, schrien mir in die Ohren: NEEEEEEEEEEEEEEEIIIN! Ich musste hier weg, und zwar schnell und wenn möglich, ohne verbrannte Erde zu hinterlassen, da ich mit Maria noch die nächsten Monate zusammenleben musste. Letzteres war in dieser Situation zwar nur ein sekundäres Missionsziel, doch der Satz „Sorry Leute, aber ich kann mir jetzt nicht jede Scheiße geben“ konnte nicht mehr als eine Notlösung sein, falls alle Stricke gerissen wären.
 

„Entschuldigung, wo ist denn hier die Toilette?“, quetschte ich mich unsanft zwischen das Gespräch der beiden Frauen. Maria roch den Braten sofort. „Aber Stéphane, du musst nicht gehen. Mich stört es nicht, wenn du hier bleibst.“ – ‚Aber vielleicht stört es mich? Schon einmal daran gedacht?‘, entfuhr es mir fast. „Nein, nein, Maria. Ich muss wirklich ... ähem ... ganz, ganz dringend“, erwiderte ich aufstehend. Nachdem mir die Ärztin den Weg kurz erklärte, verließ ich zügig, aber unauffällig den Raum und dann das Gebäude. Meine Nerven schliffen bereits über den Asphalt und ich brauchte ein paar Momente für mich, um auf das Leben und die menschliche Existenz an sich wieder klarzukommen. Die strahlende Sonne und ein paar Zigaretten halfen dabei Wunder. Als Maria fertig war, gingen wir gemeinsam zum Hauptgebäude des Krankenhauses, um dort auf den Bekannten mit dem Kanister Benzin zu warten.

Jetzt laufe ich zurück zum Auto. Es ist umzingelt von orange leuchtenden Pylonen, an der Windschutzscheibe ist ein Zettel angebracht. Der Fahrer des Fahrzeugs sei gebeten, das nächste Mal doch bitte auf einem der Besucherparkplätze zu parken und nicht hier, mitten auf dem Gelände. Ich lächle und ein freundliches „Fickt euch, ihr Penner“ verlässt meine Lippen. Ich kippe das Benzin in den Tank, schmeiße den leeren Kanister in den Rückraum und starte den Wagen, der sich so fährt, als sei er nach einer Skizze Grundschüler konstruiert worden.




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