Freitag, 21. September 2012

Frankreich 2009 (2): Die Wohnungssuche

Da hat man den ganzen Sommer nichts zu tun und langweilt sich und dann wirft mich das französische Studentenwerk zwei Tage vor meinem sicher geglaubten Wohnheimszimmer raus. Das hätten sie mir auch mal früher sagen sollen. Die Penner!




Ich schnippe die Kippe weg und steige in mein Auto und fahre los. Ein paar Kisten hatte ich bei einer befreundeten Familie verstaut. Eine Reinigungsfachkraft hatte das Zimmer abgenommen und der Schlüssel liegt im Briefkasten der Rezeption. Der Rest meiner Sachen liegt hinter und neben mir im Auto verteilt. Alles war erledigt. Ich bin entspannt und freue mich auf die Hochzeit meines Bruders. Und auf das Essen danach.
Ich wünsche mir ein Auto mit einem stärkeren Motor. Die Leere der Autobahn verführt mich zur Raserei, doch mein moosgrüner Peugeot 306 kann dieser Verführung besser widerstehen als ich. Bei der breiten Straße scheint es mir als würde ich stehen und nicht fahren und so stehe ich Stück für Stück über die französische Autobahn nach Hause, nur unterbrochen von Mautstellen. In Belgien erwartet mich der übliche Höllenritt über Straßen, die wohl seit der Römerzeit nicht mehr verbessert wurden und Verkehrsregeln, die wohl auch aus dieser Zeit stammten. Immerhin hält mich das aufsteigende Adrenalin wach und ich komme sicher und wohlbehalten Zuhause an.

Am nächsten Tag wird geheiratet – standesamtlich. Ich freue mich über mein neues Hemd in Bordeauxrot, welches meine Wampe gekonnt verdeckt. Doch als ich meine Schuhe zubinde, wölbt sich der dicke Bauch wieder in den Weg. Vielleicht sollte ich weniger Croissants futtern und seltener bei McDonald‘s einkehren. Nur noch so zwei-dreimal die Woche. Hoffentlich macht heute niemand Fotos. Die Hochzeit selbst ist kurz und schmerzlos und interessant. Danach gibt es Sekt und eine Fotografin, vor der ich mich so wie möglich, verstecke.

Zwei Nächte später fahre ich wieder nach Rennes. Ich komme bei François und seinen Eltern unter. Die Eltern sind herzensgute und freundliche Menschen, die ich mir als Großeltern gönnen würde, wenn ich in der Hinsicht noch nicht versorgt wäre. Die Mutter passt morgens immer auf einen Haufen Kleinkinder auf, deren Eltern arbeiten. Ein Junge kann eigentlich schon auf das Töpfchen gehen. Nachdem er seine Hose ganz alleine runtergezogen hat, vergisst er allerdings das Töpfchen und pinkelt stehend auf den Küchenboden. Ein Mädchen hat ein Bilderbuch mit Tieren in der Hand und fragt den Vater ununterbrochen und mit einer Beständigkeit, die man sich für die Kinder von Feinden wünscht „Ce quoi ça?“ Was ist das?

Die Zimmersuche ist deprimierend. Ich verstehe die Kürzel der Anzeigen nicht, dann verstehe ich die Leute am Telefon nicht und zu guter Letzt werde ich ständig abgelehnt, weil ich nicht das komplette akademische Jahr bis Juni in Rennes wohnen möchte, sondern maximal bis Ende März. François versucht mich aufzumuntern. „Wie viele Zimmer hast du dir denn bis jetzt angeschaut?“ – „Zwei.“ Er schaut irritiert. „Und bei wie vielen hast du angerufen?“ – „Drei oder vier.“ Er schaut irritierter. „Und du willst jetzt schon aufgeben?“ – „Das ist voll der Scheiß! Ich rufe bei den Leuten an und versteh kaum ein Wort. Dann die Hausnummern. Welcher Idiot ist denn auf die Idee gekommen, nicht achtzig achtzig zu nennen, sondern vier-mal-zwanzig und neunzig nicht neunzig, sondern vier-mal-zwanzig-zehn? Da werd ich doch bescheuert im Kopf.“ Ich atme tief durch. „Außerdem wollen die Vermieter jemanden, der länger dort wohnen bleibt und nicht schon im April wieder auszieht.“ – „Dann sag das doch einfach nicht.“ – „Und wenn sie mich fragen?“ – „Dann hast du halt jetzt vor, die volle Wohnzeit dort zu wohnen.“ – „Aber das ist doch ...“ Genial.

Ich überwinde mich und rufe bei der nächsten Anzeige an. François steht neben mir und hat vor mir zu helfen, wenn ich etwas nicht verstehe. Leider scheint mein nur halbgeiles Französisch ihn so heftig zu kitzeln, dass er im Laufe des Gespräches Tränen lachend auf dem Sofa zusammenbricht. Penner. Tolle Hilfe. Die Frau am Hörer spricht sehr undeutlich – schlimmer als die restlichen Franzosen und dieses Telefonat ist mehr Folter als Qual, doch am Ende habe ich einen Termin in einer halben Stunde. Erleichtert lege ich auf und verprügele François. Aber nur in Gedanken, da er stärker und größer ist.

Das Appartement liegt über einer Brasserie. Es dauert ein wenig, bis mir die Besitzerin die Tür öffnet, doch dann steht sie vor mir: Maria. Sehr kurze Haare – kürzer als meine, das Gesicht glänzt aufgrund der Masse an Piercing und Schminke und – was zur Hölle ist das? – rote Rosentattoos am Hals und am Oberarm. Trotz meiner aufkommenden Zweifel bin ich hier richtig. Sie begrüßt mich freudig und wir setzen uns in die Küche und rauchen. Ich kann die Frau schlecht einschätzen, aber sie lacht viel und ist nicht unsympathisch. Sie zeigt mir die zwei Zimmer, die zur Auswahl stehen. Beide möbliert, beide mehr als nur akzeptabel: Bett, Schreibtisch, Stuhl und Schrank sind jeweils da, mehr brauche ich nicht. Wir unterhalten uns noch ein wenig in der Küche und ich bekomme ein Zimmer. Mir fällt eine sehr große Last von der Schulter. Vielleicht sollte ich ein wenig skeptisch werden, da sie mir das Bad nicht zeigen kann, das sich der Besitzer des anderen Zimmers mit der Vermieterin teilen muss. Sie macht einen freundlichen Eindruck, ich brauche dringend ein Zimmer und ich will heute wieder nach Hause zur Hochzeit fahren. Ich nehme also das Zimmer, verabschiede mich bei François und seinen Eltern und fahre nach Hause. Bei der Fahrt werde ich nur ein Mal geblitzt und entgehe in Belgien auch nur zweifach knapp dem Tod.

Am nächsten Tag wird geheiratet. Dieses Mal in der Kirche. Eine schöne Prozession in einer kleinen und gut gefüllten Kirche. Die anschließende Feier ist lecker, witzig und alkoholgetränkt. Die Fotografin ist zu meinem Leid äußerst engagiert und versucht jeden Hochzeitsgast auf mindest fünfzig Fotos zu bekommen. Als die Familie sich zu einem Gruppenbild zusammenstellt, frage ich mich, warum ich ausgerechnet zum Zeitpunkt der Hochzeit so fett sein muss, wie noch nie in meinem Leben zuvor. Warum muss ich dazu so klein sein, dass sich das Fett nicht besser verteilt? Das ist so ungerecht. Jetzt werden Bilder von mir als ewiges Mahnmal von schlechter Ernährung und mangelnder Bewegung in den Wohnzimmern meiner Familie hängen. Aber wenn ich es schaffe, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken ... „Wie wär’s wenn sich Opa wie ein Torwart beim Mannschaftsfoto vor die ganze Bagage legt?“ schlage ich vor. Außer Opa hören es alle und lachen. Leider nimmt diese Idee keiner wirklich ernst. Schade eigentlich. Ich stelle mich meinem Schicksal und versage beim Versuch auf natürliche Weise zu lächeln: Cheeeeeesee.

Zwei Tage später fahre ich wieder neun Stunden nach Rennes. Die Fahrt kotzt mich langsam an. Ich fahre unkonzentriert, entkomme aus Belgien nur knapp mit meinem Leben und verfahre mich irgendwo in Frankreich, was den Puls und die Mautgebühren hochtreibt. Entnervt komme ich an und räume schon einige Kisten in mein Zimmer, die ich im Laufe der nächsten vier Wochen ausräumen werde. Am Abend schlafe das erste Mal in meinem neuen Bett. Mein Gemüt hat sich entspannt. Ich habe ein Zimmer! Das nimmt mir niemand mehr weg. Ich denke, dass ich in Ruhe hier wohnen und die nächsten Wochen meine Nerven entspannen kann.

Wie naiv ich doch war.



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