Dienstag, 18. September 2012

Frankreich 2009 (1): Der Rausschmiss

Ursprünglich begann ich diesen - erschreckend vernachlässigten - Blog vor über drei Jahren, um Familie und Freunden in Deutschland auf dem Laufenden zu halten, was mir so alles passieren würde. Und um am Telefon und über Skype nicht bei jedem Gespräch das Gleiche erzählen zu müssen. Die Idee an sich war zwar gut, aber ich hätte dann auch ab und an auch mal etwas schreiben müssen. Vor allem, weil ich ab Ende August tatsächlich einiges erlebt habe. Anders, als ich mir das von einem Auslandsjahr vorgestellt habe, aber immerhin. Es juckt mir schon länger in den Fingern, das einfach nachzuholen und jetzt - drei Jahre später - ist es soweit. Alle paar Tage will ich eine Episode aus meiner skurrillen WG aus Rennes veröffentlichen. Ich kann nicht versprechen, dass das auch nur im Ansatz interessant ist, aber ich mach das jetzt auch mehr für mich. Der folgende Text schließt recht nahtlos an zwei ältere Einträge ein.




Es ist Ende August. Meine offizielle Easmus-Zeit ist seit fast zwei Monaten vorbei, doch ich habe mich bereits als ordentlicher Student an der Uni eingeschrieben, und zwar als Bachelor im dritten Jahr, was auf Französisch Licence 3 genannt wird. Ich darf nur noch wenige Tage in der Résidence Universitaire, dem Studentenwohnheim, wohnen, doch das Studentenwerk hat mir bis jetzt noch kein neues Zimmer zugeteilt. Weder will ich bald auf der Straße stehen, noch habe ich Lust auf Französisch zu telefonieren und so fahre ich zum Hauptgebäude des CROUS, dem Studentenwerk. 

Mich empfängt eine freundliche und leicht rundliche Frau in ihrem Büro. Sie fragt mich, ob ich denn bereits beim Studentenwerk gemeldet bin. Ich verneine. Die Frau sucht in ihrem hochmodernen Karteikasten. Und sucht. Und sucht. Ich werde leicht nervös, da ich wirklich ein möbliertes Zimmer brauche. Ich kann mir doch jetzt nicht einfach neue Möbel für die neun kommenden Monate zulegen. „Es tut mir leid, Sie sind hier in der Kartei nicht verzeichnet. Alle Zimmer im Villejean sind bereits vergeben. Aber außerhalb hätten wir noch etwas frei.“ Oh nein! Es dauert schon lange genug von der Innenstadt im besoffenen Zustand nach Villejean, dem Studentenquartier von Rennes, zu gehen. Und jetzt wollen die mich noch weiter an den Stadtrand wegschicken? Noch weiter? Wenn die Dame von mir erwartet, dass ich wie jeder vernünftige Franzose besoffen mit dem Auto nach Hause fahre, werde ich ihr laut Erdogans „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ entgegenschmettern.
 

Als ich noch darüber nachdenke, ob der Satz internationale Gültigkeit hat oder nur auf Türken in Deutschland angewendet werden darf, scheint die Beamtin meine Betroffenheit zu bemerken. „Sind Sie sicher, dass Sie hier nicht gemeldet sind?“ Ich verneine. Sie verdreht die Augen und sucht im benachbarten Karteikasten. Keine zwei Sekunden später zieht sie eine Kartei heraus. „Voilà! Sie haben hier doch schon ein halbes Jahr gewohnt. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“ Ich bin mir nicht sicher, ob die Frage rhetorisch oder ernst gemeint ist. Ich ziehe mein gewohntes Ich-bin-Ausländer-und-habe-keine-Ahnung-von-nichts-Gesicht auf und ärgere mich über mich, dass ich nicht wie sonst Oui, oui sagte. Doch die Dame widmet sich schon wieder ganz den Unterlagen. Sie ist freudig erregt – hoffentlich nur freudig. „Ach nein, natürlich haben wir ein Zimmer für Sie. Alles in Ordnung.“ Ich atme erleichtert durch. Ist ja zum Glück noch mal alles gut gegangen. Ich beginne mir mein neues Zimmer auszumalen. Hoffentlich komme ich in eins dieser neueren Wohnheime. Eins mit eigener Dusche, einer Küche mit mehreren Herdplatten und Backöfen und Mikrowelle und einer großen Sitzecke. Eins, das nicht vergammelt ist.
 

„Haben Sie noch Ihre Studentenbescheinigung?“ Die Frau tritt in meine imaginäre Küche. Im Rucksack finde ich meine Unterlagen von der Uni, überreichte sie ihr und beginne wieder von der Küche zu träumen. „Entschuldigen Sie, Monsieur Kafitz, aber hier steht, dass sie nur auf Licence trois studieren. Sie haben aber angegeben, dass sie auf Master 1 studieren würden.“ – „Ich habe mich auf den Masterstudiengang beworben, wurde da aber nicht angenommen. Gibt es ein Problem?“ – „Ja, das kann man so sagen. Wir haben nur Zimmer für Studenten auf Master, Austauschstudenten und Promotionsstudenten. Für Studenten auf Licence gibt es keine Zimmer in der Résidence Universitaire.“ – „Aber ich studiere doch ganz nor...“ – „Das ist egal.“ – „Es gibt überhaupt keine Möglichkeit ein Zimmer zu bekommen?“ – „Nein.“ – „Und außerhalb? Eins von denen, die Sie mir zu Beginn angeboten haben?“ – „Nein.“ – „Aber ich kenne Studenten, die auf Licence studieren und im Wohnheim wohnen.“ – „Das kann nicht sein.“ - Es gibt also überhaupt keine Möglichkeit... - Nein. - Auch nicht für einen Auslä... - Nein. 
 

Mein Traum von eigener Dusche und großer Küche verschwand wie eine Kackwurst beim Spülvorgang in der Kanalisation der toten Wünsche. Ich war sprachlos. Gar nichts würde es geben. Nicht einmal mehr dieses alte, ranzige Wohnheim, was sie seit zehn Jahren abreißen wollen. Nicht einmal mehr vier Toiletten und Duschen mit dreißig anderen Leuten teilen. Nicht einmal mehr diese Putzfrau, die aussieht wie Roseanne und sich schminkt wie Cleopatra in Amateurpornos.
 

Verdattert und niedergeschlagen verlasse ich das Gebäude. Ich brauche eine Zigarette. Nein, sogar zwei. Mein Worst-Case-Szenario ist optimistischer gewesen als die aktuelle Situation. Ich muss jetzt in Frankreich nach einem möblierten Zimmer suchen, was sich anspruchsvoll genug gestalten dürfte. Ich besitze eine Rechnung von der Autowerkstatt, die bezeugt, wie schwierig mir telefonieren auf Französisch fällt – und wie teuer das werden kann. Ich habe nur das Wochenende Zeit eine neue Bleibe zu finden, am Montag muss ich ausziehen. Wie ungünstig, dass ich genau an diesem Wochenende gar nicht in der Stadt sein werde, da mein Bruder standesamtlich heiraten wird und ich unbedingt nach Hause fahren muss. Meine Sachen sind bereits gepackt. Ich brauche noch eine Zigarette.


>> Alle Frankreich 2009-Episoden.

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