Donnerstag, 6. Mai 2021

Freiheit oder Lockdown? - Coronapolitik Deutschlands und Ägyptens im Vergleich

Obwohl es nur knapp 1000 offizielle Fälle gibt - wie vor ein paar Tagen schon berichtet -, wird ab morgen das Land für zwei Wochen dichtgemacht. "Dichtmachen" heißt hier: Restaurants und Malls schließen ab 21 Uhr, Restaurants dürfen aber noch liefern. Parks und Strände werden geschlossen. Gebete in Moscheen sind nach wie vor erlaubt. Hier findet ihr mehr Infos. Dichtmachen ist hier natürlich eine deutlich, deutlich abgemilderte Fassung von einem Dichtmachen in Deutschland. Manch einer blickt also ein wenig neidisch auf die Situation hier und fragt sich: Wäre das nicht eine bessere Vorgehensweise für Deutschland gewesen, so ganz ohne Lockdown? 

Erst einmal sieht die Lage in Ägypten und ganz Afrika deutlich entspannter aus als in Deutschland. Deutschland vermeldet 83 000 Tote im Laufe der Pandemie, Ägypten 13 000, bei einer Bevölkerung, die um 1/4 größer ist. Alles entspannt also? Dagegen spricht die Situation vor Ort. Während ich unter meinen Bekannten in Deutschland, einer der wenigen bestätigten Coronafälle bin - für manche sogar der einzige in ihrem Bekanntenkreis -, sieht es in Ägypten anders aus. 

Hier gibt es kaum eine Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kindern, in der es nicht wenigstens eine Erkrankung gibt und es gibt kaum eine Familie (also einschließlich Großeltern und Onkeln), in der es nicht wenigstens einen Todesfall gibt. In unserer Oberstufe hat es wohl wenigstens die Hälfte des Jahrgangs gehabt, vermutlich eher mehr. Viele Schüler haben dementsprechend Verwandte verloren, manche sogar einen Elternteil. Es wird allerdings nicht darüber berichtet, weder in ägyptischen noch in deutschen Medien. Ägyptische Politiker beten vermutlich jeden Tag, dass hier keine indischen Verhältnisse auftreten, so dass die wahre Situation verschleiert werden kann. (Selbst wenn indische Verhältnisse hier aufträten, heißt das nicht automatisch, dass jemand Verantwortung dafür übernehmen würde.)

Ins Krankenhaus gehen dabei nur die wenigsten. Selbst mein Arabischlehrer hat für seine Mutter Sauerstoffflaschen und Co nach Hause gebracht und sie dort versorgt, bevor sie verstarb. Soweit ich das beurteilen kann, gehört der gute Mann definitiv nicht zur Oberschicht und hat neben der Pflege auch einen enormen finanziellen Aufwand betrieben, um sie zu versorgen. Ein anderer Freund hat ebenfalls seinen Vater Zuhause versorgt, weil ein Krankenhausaufenthalt kategorisch vermieden werden musste.

Genau weiß ich nicht, was die Ursachen für die Probleme des Gesundheitssystems sind, aber ein Teil ist sicher Unterfinanzierung. So gibt Deutschland das Hundertfache pro Kopf im Gesundheitssystem aus wie Ägypten. Ein Arzt im öffentlichen Gesundheitssystem verdient knapp 16 € im Monat, genauso viel wie ein Soldat im Wehrdienst. Jetzt meinst du, verehrtester Leser vielleicht, "Moment!, da fehlen doch ein bis zwei Nullen. Das ist doch zum Leben viel zu wenig", dann hast du mit deiner Annahme vollkommen recht. Sechszehn Euro pro Monat, und dabei teilweise Schichten, die sich auf 80-100 Stunden pro Woche ansammeln können. Kein Wunder also, dass jeder Arzt versucht aus diesem System auszubrechen. 

Attraktivere Alternativen sind nämlich der Privatsektor, eine eigene Klinik eröffnen, ein Job im Westen oder eine Stelle bei Armee oder Polizei. Die Armeekrankenhäuser sollen so gut sein, dass sie die Qualität westlicher Krankenhäuser übertreffen. Aber jene sind - wer hätte es gedacht - eben nur für Armeeangehörige zugelassen; die meisten Ägypter sind sich selbst überlassen. Es ist also nicht nur ein Mangel an Ressourcen, die die Unterversorgung im Gesundheitssystem verursachen, sondern auch eine Verteilung der Ressourcen. Die Armee ist nun einmal viel wichtiger als die Bevölkerung. 

Vielen staatlichen Krankenhäusern kommt aufgrund des Vertrauensverlustes der Bevölkerung wohl mehr eine Rolle eines Hospizes zu und nur ganz verzweifelte Fälle gehen dorthin. Schließlich gibt es auch Berichte davon, dass man sich sehr einfach im Krankenhaus mit Corona angesteckt könnte, selbst wenn man es vorher nicht gehabt hätte. (Wobei solche Aussagen nicht immer ganz zu trauen ist, schließlich gibt es auch studierte Leute, die ihre Ansteckung auf "zu wenig Schlaf" zurückführen, obwohl sie kurz davor noch in Restaurants aßen, in der Mall Ski fuhren und sich auch sonst nicht einschränkten.) 

Gleichzeitig nehmen große Teile der Bevölkerung den Virus nicht besonders ernst. Es ist keine Seltenheit, dass im Supermarkt niemand die Masken aufzieht. (Auch hier verhindert die Klassengesellschaft, dass Angestellte die Kunden darauf hinweisen und eventuell auch aus dem Laden werfen.)

Nicht zuletzt ist es ein Problem, dass hier niemand die wahre Situation kennt. In Deutschland würden mehr Freiheiten auf besser informierte Bürger treffen, die ja die Inzidenzzahl in ihrem Kreis kennen und danach ihr Handeln auch ausrichten können. Hier aber wird so gut wie nicht getestet und die Tests sind viel weniger aussagekräftig als in Deutschland. Die Chance Corona zu haben und trotzdem mehrere Negativtests zu bekommen, ist hier viel größer, gleichzeitig wird viel weniger getestet. Und nur weil man positiv getestet wurde, werden die Fälle ja nicht in die offizielle Statistik mit aufgenommen. Demnach ist es für mich allein durch Medienberichte undurchschaubar, wie die tatsächliche Situation ist.

Meine Familie und Freunde, die in Deutschland unter dem Lockdown leiden, tun mir ehrlich leid, allen voran die Kinder. Die Coronapolitik der Regierung kann hier sicher unter vielen Gesichtspunkten kritisiert werden. Auch halte ich diese absolute Verbotspolitik für nicht unbedingt zielführend. Statt den Menschen die Möglichkeit zu geben sich draußen zu treffen, treffen sich sicher viele heimlich drinnen, was meines Erachtens der eigentlichen Absicht entgegenspricht. Und Regeln, die man nicht überprüfen und einfordern kann, kann man sich eigentlich auch gleich sparen. Da wären "Empfehlungen" sicher sinnvoller. 

Mein Punkt ist, dass hier in Ägypten diese "Freiheit" eben auch Konsequenzen mit sich bringt. Natürlich ist diese "Freiheit" keine echte Freiheit, denn sie entspringt hier ja aus einem Desinteresse der Regierung für die eigenen Bürger - sollen sie doch Kuchen essen! Die Infektionszahlen und Todeszahlen sind hier mindestens zehnmal, eher fünfzehnmal so groß wie offiziell verlautet. Damit lägen die Todeszahlen bei wenigstens 130 000 und ich befürchte, damit kommen wir immer noch nicht hin. Hoffentlich gehen die Infektionszahlen dank der vielen Familientreffen im Ramadan nicht völlig durch die Decke. Auszuschließen ist das meines Erachtens aber nicht.

Von daher kann meines Erachtens Ägyptens Politik gerade nicht als Vorbild für Deutschland gelten,  weil die Rahmenbedingungen dieser Freiheit eben ganz andere sind. Hier kann ich keine bewusste und informierte Entscheidung treffen, ob ich meine Wohnung verlasse, weil die tatsächliche Situation unklar ist. Was ich jetzt noch nicht berücksichtigt habe, ist die unterschiedliche Betrachtungsweise von Schicksalsschlägen, aber das ist ein Thema für eine anderes Mal.

 Auf Deutschland bezogen, denke ich, dass es noch mehr als nur die zwei Optionen "kompletter Lockdown" und "Überlastung des Gesundheitssystems" geben muss. Da gibt es sicher noch viel Luft nach oben hinsichtlich der Suche nach kreativen Lösungen, die mehr Freiheit, aber auch einen Schutz der Bevölkerung miteinander verbindet, sofern man sich von dem Wunsch nach absoluter Sicherheit verabschiedet. Da sind wir Deutschen auch ein ängstliches Volk. 

Für mich zeigen sich im direkten Vergleich beider Länder wie so oft zwei extreme Positionen. Wie so oft, halte ich einen mittleren Weg für erstrebenswert, nicht nur in der Politik, sondern gerade auch in der Mentalität.

An der Stelle würde mich tatsächlich interessieren, verehrtester aller Leser - ja, genau du, der das gerade hier liest, du bist wirklich mein Lieblingsleser; nicht die anderen, die finde ich alle doof -, wie deine Position zum Lockdown in Deutschland ist. Leidest du gerade sehr darunter?, unterstützt du die Maßnahmen? oder bist du gerade dabei eine bewaffnete Widerstandsgruppe zu gründen?  

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